ISLÄNDISCHES MÄRCHEN ÜBER DIE SELKIE - FRAU AUS DEM MEER
- Roman Pech
- 29. 9.
- Leseminuten: 2
Es war vor langer Zeit, zu einer Zeit, als die Menschen noch glaubten, dass das Meer mehr als nur Fische und Algen beherbergte. Am felsigen Ufer des Westfjords versammelten sich eines Abends die Robben. Es war Vollmond, und das silbrige Licht wurde von den Wellen reflektiert.

Wer genau hinsah, konnte etwas Seltsames sehen: Robben, die aus dem Wasser kamen, ihr nasses Fell ablegten und plötzlich wie schöne Menschen am Strand standen - groß, blond, mit Augen so tief wie das Meer. Sie lachten und tanzten und sangen Lieder, die bis in die Berge widerhallten.
Der Bauer und das Geheimnis der Truhe
In einer nahe gelegenen Siedlung lebte ein einsamer Bauer. Als er ihren Tanz sah, war er atemlos. Vor allem ein Mädchen - das schönste, das er je gesehen hatte - schien wie aus einem Traum zu stammen. Und dann bemerkte er ihr Robbenfell, das auf einem Felsen lag. Er erinnerte sich an die alten Geschichten, die besagten, dass derjenige, der das Fell versteckte, das Siegel an sich binden würde.
Also nahm er die Haut und versteckte sie in einer Truhe auf seinem Hof. Das Mädchen suchte danach, lief an der Küste entlang, fand aber nichts. Ohne die Haut konnte sie nicht zum Meer zurückkehren.
Der Bauer kam zu ihr, bot ihr sein Haus und sein Herz an. Und weil sie keine andere Wahl hatte, willigte sie ein. Sie wurde seine Frau.
Leben unter Menschen
Die Jahre vergingen. Die wandernde Frau kümmerte sich um das Haus, melkte die Schafe, brachte Kinder zur Welt. Sie war freundlich, und diejenigen, die sie kannten, sagten, sie habe die Ruhe des Meeres in sich. Nur in ihren Augen lag immer eine Ferne - eine Sehnsucht nach den Wellen, nach Liedern, nach Heimat.
Jeden Tag ging sie zur Klippe, schaute aufs Meer hinaus und sang den Wellen ein leises Lied.
Rückkehr zum Meer
Eines Tages, als der Bauer nicht zu Hause war, räumte sie die alte Speisekammer auf. Und dort - in einer Holztruhe unter einem Haufen Lumpen - fand sie ihre Haut. Ihre Hände zitterten, als sie sie aufhob. Freude und Tränen mischten sich in ihren Augen.
Sie zog ihn an, ging hinaus und umarmte ihre Kinder ein letztes Mal. Sie sagte ihnen, dass sie sie immer lieben würde, aber ihr Zuhause sei auf dem Meer. Und dann verschwand sie in den grauen Wellen.
Robben-Lied
Seitdem heißt es, dass man in stürmischen Nächten eine Frau am Ufer singen hören kann. Ihre Stimme mischt sich mit dem Wind und dem Tosen der Wellen. Kinder, die an Land geblieben sind, erkennen in diesem Gesang die Stimme ihrer Mutter wieder. Und wenn eine Robbe auftaucht und länger als die anderen bleibt und traurig zum Ufer schaut, sagen sie: "Das ist unsere Mutter, die vom Meer zurückkommt."
Selkies und "Meeresbewohner"
Die Geschichte von der Robbenfrau wird in ganz Island in verschiedenen Varianten erzählt. An manchen Orten erzählt sie von einem Mädchen, an anderen von einem jungen Robbenmann, der das Herz eines Mannes gewinnt. Was immer gemeinsam ist, ist das Motiv der Haut, die die beiden Welten - die menschliche und die Meereswelt - miteinander verbindet.
Es ist kein Zufall, dass die Isländer Robben immer noch als "sjófólk" - Meeresbewohner. Für sie sind Robben nicht einfach nur Tiere, sondern Wesen mit einer Seele, die ihre wahre Gestalt an der Küste für eine Weile ablegen können.
Wenn Sie also an der isländischen Küste einen Seehund sehen, der Sie mit seinen großen Augen beobachtet, schauen Sie vielleicht nicht nur auf ein Meerestier, sondern in die Augen eines Meermanns, der sich an alte Lieder und Geschichten erinnert.
Kommentare